Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen (Thich Nat Hanh)

 

Dieser Text hat mich im letzten Retreat (Ostern) sehr berührt und ist so aktuell!

 

 

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen

von Thích Nht Hnh

 

Sag nicht, dass ich morgen fortgehe –

Denn ich komme heute doch grade erst an.

 

Betrachte es ganz tief: Jede Sekunde komme ich an –

Sei es als Knospe an einem Frühlingszweig

oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,

der im neuen Nest erst singen lernt;

ich komme als Raupe im Herzen der Blume

oder als ein Juwel, verborgen im Stein.

 

Ich komme stets grade erst an, um zu lachen

Und zu weinen,

mich zu fürchten und zu hoffen.

Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod

Von allem, was lebt.

 

Ich bin die Eintagsfliege, die an der Wasseroberfläche

Des Flusses schlüpft.

Und ich bin auch der Vogel,

der herabstürzt, um sie zu schnappen.

 

Ich bin der Frosch, der vergnüglich

Im klaren Wasser des Teiches schwimmt.

Und ich bin die Ringelnatter, die in der Stille

Den Frosch verspeis.

 

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,

mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke;

und ich bin der Waffenhändler,

der todbringende Waffen

nach Uganda verkauft.

 

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,

Flüchtling in einem kleinen Boot,

das von Piraten vergewaltigt wurde

und nur noch den Tod im Ozean sucht;

und ich bin auch der Pirat –

mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen

und zu lieben.

 

 

 

Ich bin ein Mitglied des Politbüros

mit reichlich Macht in meinen Händen;

und ich bin der Mann, der seine „Blutschuld“

an sein Volk zu zahlen hat

und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

 

Meine Freude ist wie der Frühling, so warm,

dass sie Blumen auf der ganzen Erde erblühen lässt.

Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom,

so mächtig, dass er alle vier Meere auffüllt.

 

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,

damit ich all mein Weinen und Lachen

zugleich hören kann,

damit ich sehe,

dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

 

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,

damit ich erwache,

damit das Tor meines Herzens

von nun an offensteht –

das Tor des Mitgefühls.

 

 

(Auszug aus:      

THICH NHAT HANH

Nenne mich bei meinen

wahren Namen

Ausgewählte Gedichte

Herausgegeben von Ursula Richard
Aus dem Englischen von
Karen Siebert

             

Gekürzte Neuausgabe 2010
Copyright © 1999 Unifi
ed Buddhist Church, Inc.
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe Knaur Verlag.

 

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Namaste Khan (Dienstag, 23 August 2016 13:30)

    Vielen Dank für diese schöne Beitrag Meisterin Savya